Was dem Mann aktuell vorgeworfen wird, verkünden seine Kritiker schon seit Jahren, nämlich seit dem ersten Auftritt von Kurz: Ein intrigantes Arschloch, dem es nur um sich und seine Macht geht, also nicht um Österreich – er hat kein Programm! In dem Sinn wurde fortlaufend „enthüllt“. Derartige Vorwürfe sind nicht daran abgeprallt, dass sie niemand geglaubt hätte. Ganz im Gegenteil. Im Lichte des Erfolgs der Figur Kurz sind die von seinen Kritikern immer so gerne bemühten Enthüllungen schlicht für etwas anderes genommen worden, nämlich für Belege seiner Durchsetzungsfähigkeit.

Die hat Kurz sehr erfolgreich zu seinem Qualitätsmerkmal gemacht: Mit seinem ganzen ruppigen Aufstieg an die Spitze der politischen Macht – dem Fertigmachen der Granden seiner eigenen Partei, dem Sabotieren und Wegputschen des damaligen Koalitionspartners SPÖ, der Entmachtung der Kickl-FPÖ nach Ibiza, dem Kleinhalten und Vorführen des neuen grünen Koalitionspartners – hat er mehr erreicht, als seine Macht de facto durchzusetzen. In den Augen seines Wahlvolks wie dessen Meinungsmacher hat er nämlich gezeigt, dass er die Macht verdient. Wer Konkurrenten niederringt und sich unterwirft, der versteht sich auf das Handwerk der Macht: So lautet die patriotische Logik, aus der der Wunsch spricht, dass ein solcher Führer die Ansprüche der Nation in Europa und der Welt zur Geltung bringen möge. Diese Sehnsucht zu bedienen, die ihm zugesprochene „Durchsetzungsfähigkeit“ kraft seines Amtes mit der Österreichs in eins zu setzen, darum war es Kurz nicht nur zu tun, er hat das auch bei jeder Gelegenheit eigens unterstrichen. Ein paar Erinnerungen: a) Egal ob Flüchtlingskrise, brennende Flüchtlingslager in Moria oder Regime-Change in Afghanistan – vor einem „Grenzsturm“ von lauter nicht-bestellten Mittellosen einzuknicken, das geht gar nicht für ein Österreich, das etwas auf sich hält. Entsprechend ist die ‚Flüchtlingsfrage‘ Auftakt und Hebel dafür, sie als Österreich in Europa entschieden mitzudefinieren – gegen die deutsch-europäische Linie. Da galt es zunächst einmal, jede Vereinnahmung oder gar Verpflichtung seitens der EU abzuweisen, um dann – ein Kurz ist nicht so bescheiden wie ein Orbán – auf europäischer Bühne als Vorreiter und Bündnisschmieder im Sinne der eigenen Lesart aufzutreten: „Festung Europa“ statt Teilung der Lasten, die unbestellte Leute für dieses humanistische Vorzeigeprojekt nun einmal sind. b) Der nationale Egoismus, so wie ihn ein Kurz seinen Österreichern vorbuchstabiert, ist auch auf dem Feld des Geldes keiner, der sich auf pure Abwehr übergriffiger Ambitionen der EU-Führungsmächte beschränken darf. Im Verein mit den „Geizigen Vier“ schwingt sich Kurz’ Österreich gegen Deutschland und Frankreich zum Aufpasser über die korrekte Verwendung des EU-Corona-Fonds auf. Damit verbindet Kurz eine doppelt frohe Botschaft: Erstens können kleinere Mitgliedsstaaten ihre Interessen in der EU durchsetzen, wenn sie Bündnisse knüpfen, und das zweitens erst recht, wenn sie den Anstand auf ihrer Seite haben. Den steuert Kurz bei: Er ist das moralische Gesicht des Kampfes der verantwortlich Haushaltenden gegen die Schmarotzer. c) Wenn die Corona-Impfung schon von nationaler Wichtigkeit ist, dann taugt sie, um an ihr das Gleiche klarzustellen, was einen Kurz auch bei Volk und Geld umtreibt: Österreichs nationale Fragen erfordern, die Nation in der EU zur Geltung zu bringen. Kurz entdeckt – ganz losgelöst von Fragen der Sicherstellung der nationalen Impfstoffversorgung – einen Gerechtigkeitsskandal in der Frage der europäischen Zuteilung, den sich ein Staat wie Österreich nicht gefallen lassen darf und muss! Als Vertreter entrechteter Ost-Länder tritt er für eine nachträgliche Korrektur des Verteilungsmechanismus ein. Usw. Nicht jeder seiner Auftritte mag in den Augen der beurteilenden Öffentlichkeit immer gelungen sein, aber gerade auch dann, wenn sie enttäuscht ist, legt sie davon Zeugnis ab, wie gut sie ihren Kurz verstanden hat: Die Gleichung seines Machtwillens mit dem Dienst an Österreich ist von Kurz behauptet worden und hat gegolten, solange der Mann Kanzler war.

Jetzt hat er aber zur Seite treten müssen, und damit fällt die Gleichung auseinander. Seitdem weiß so ziemlich jeder – außer seiner etwas geschrumpften Anhängerschaft, die kann ihn lässig als Opfer einer Intrige entschuldigen –, dass es ihm schon immer nur um sich gegangen ist, also nicht um Österreich. Intrigen, die der Sache nach schon lange bekannt gewesen sind, stehen jetzt für seine selbstverliebte Rücksichtslosigkeit und nicht mehr für den erfolgreichen Macher, der sich durch nichts aufhalten lässt.

Gerade auch für diesen Skandal gilt eben, dass aus ihm wird, was die politische Konkurrenz aus ihm macht. Die Grünen haben etwas daraus gemacht, weil sie es vermocht haben. Ihnen ist durch ihre Unentbehrlichkeit für die Koalition und die Kanzlerschaft von Kurz infolge der klaren Absage der FPÖ an eine erneute Koalition mit der ÖVP die Macht zugewachsen, der Volkspartei ihre offene Rechnung zu präsentieren und die Übermacht ihres Koalitionspartners ein gutes Stück in die Schranken zu weisen. Die ÖVP hat also vor der Wahl gestanden, die Regierung platzen zu lassen oder aber Kurz dazu zu bewegen, zur Seite zu treten.

Keine Partei hat sich mit Neuwahlen einen Machtzugewinn ausrechnen können. Allen ist die Sache noch viel zu unentschieden vorgekommen, als dass sich darauf ein verlässlicher Wahlerfolg hätte bauen lassen. Entsprechend gefallen sich jetzt SPÖ und Co darin, das hohe Gut einer handlungsfähigen Regierung als erstes Sorgeobjekt aller Anständigen gewahrt zu haben. Das gefällt auch der Öffentlichkeit – bei allem verständigen Nachvollzug der einschlägigen Kalkulationen, die sie ihrem Publikum nicht vorenthält. Die Sternstunde der Demokratie, in der der Wähler periodisch seine Präferenz in Form eines Kreuzchens ausdrücken darf, hat jedenfalls gerade keinen guten Ruf, was sich auch mit viel Verständnis für den Wähler ausdrücken lässt: Der hat sicher keine Lust, schon wieder zur Wahlkabine zu dackeln, er hat ja auch noch anderes zu tun. Also muss er sich über den Skandal und dessen Verlauf informieren lassen und zusehen, was die politische Elite so alles damit anzustellen weiß. Der Skandal fungiert als deren Mittel in ihrer Machtkonkurrenz, bevor der Wähler als höchster Souverän dann irgendwann zum Zug kommt, um mit seinem Votum für – hoffentlich – klare Mehrheitsverhältnisse zu sorgen.

Wie so eine Rechnung geht, welche Rolle dem Volkssouverän vom Standpunkt der Herrschaft zukommt, wie handlich der mit einem „Tool“ zu handhaben sei, das wird im Zuge der Skandalberichterstattung über geschönte Umfragen einfühlsam dargelegt und für selbstverständlich erachtet. Den Wähler hat man leicht im Griff – davon gehen alle aus, wenn sie die krumme Tour, mit der sich die ‚Türkisen‘ dieses demokratischen Handwerks angenommen haben, skandalisieren. Die Wahrheit ist leider viel schlimmer als die alltägliche Praxis dieses demokratischen Manipulationsideals, die immer dann als undemokratische „Manipulation“ inkriminiert wird, wenn sich jemand bei einem Regelverstoß erwischen lässt: Worauf sich Politik und Öffentlichkeit da in der Sache verlassen, das ist die Sehnsucht eines patriotisch erzogenen Volkes nach einer starken, seinen Anspruch an die Macht der Nation würdig repräsentierenden Führung. Auf dieses volkstümliche Ideal baut der schöne demokratische Zirkel, dass die per Umfrage widergespiegelte Zuneigung der Wählerschaft zu einem Machtaspiranten in den freien und geheimen, also ganz unabhängig zu treffenden Vorzugsentscheidungen der vielen Einzelnen ziemlich kalkulierbar für diesen spricht, also seine Erfolgschancen weiter steigert. Genau passend zum Zweck der Ermächtigung, um den es in der Wahl nun einmal geht, ist es nach der Logik eines patriotischen Wahlvolks, einer prospektiven Regierungsmannschaft die erfolgreiche Ausübung und Repräsentation von Macht zuzutrauen, wenn und weil sie sich in der demokratischen Konkurrenz um sie erfolgreich durchsetzt.

Ohne Zweifel ist auch die unsaubere Art, mit der Kurz und Konsorten diesen in noch jedem demokratischen Wahlkampf in Anschlag gebrachten Nutzwert von Umfragen zu einem „Tool“ ausgebaut haben, ein Fall von „Message Control“, aber ein sehr untergeordneter. Kurz’ „Message Control“ bestand ihrem Wesen nach nicht darin, dass irgendwer bestochen oder zensiert wurde, und auch nur in Ausnahmefällen in Anrufen beim Chefredakteur und seiner gelegentlichen Auswechslung, sondern in der sorgfältig, also glaubwürdig inszenierten Bedienung all der Ideale gelungener Führerschaft, die die Meinungsmacher ganz von sich aus haben und als Messlatte an die politische Führung anzulegen gewohnt sind. Also wurde in jeder „Kommunikation“, vom Foto bis zur Pressekonferenz, darauf Wert gelegt, dass die unbestrittene Führerschaft des Kurz dabei deutlich zur Geltung kommt. Das war kein Geheimnis, sondern wollte als Beitrag zum endlich gedeihlichen Miteinander gewürdigt werden: Es sollte Schluss sein mit dem ständigen Anpatzen. Jetzt sollten endlich einmal alle hinter dem Kanzler stehen, und damit wäre dann für ein Ende der ewig lähmenden Zwietracht gesorgt – damit es endlich vorangehen kann.

Positiv schlug da schon alleine die Ankündigung ein, in Sachen Inszenierung einheitlicher Führung von oben Sorgfalt walten zu lassen. Wenn Kurz das glaubwürdig hinkriegt, ist das schließlich ein Beweis seiner Führerschaft, denn den Laden namens Regierung samt Presseabteilung hat er dann ja offenbar im Griff. Und so funktionierte sie dann auch ganz gut, die „Message Control“, und überhaupt nicht nur die Fellner-Medien waren beeindruckt. Was ja mal eine Auskunft über den unbestechlichen Maßstab dieser „4. Gewalt“ ist: Auch die ist, so gesehen, ganz gut zu handhaben und alles andere als eine Schranke einer irgendwie übertriebenen Machtgier, als die sie sich selber gerne sieht.

Jetzt soll sie aber obendrein auch noch gekauft worden sein. Ja, und? Es mag ja sein, dass es verboten ist, sich ein Gesetz zu kaufen. Sich eine Zeitung zu kaufen – oder auch nur ein paar Seiten darin – ist jedenfalls ausdrücklich erlaubt: Die öffentliche Meinung und ihre Produktion sind ein reger Handelsgegenstand – wer zahlt, schafft an. Was denn auch sonst in einer Marktwirtschaft? Die rechtlich sanktionierten Usancen dieses Geschäfts mögen nicht immer eingehalten werden, es ist aber jedenfalls diese allgemein gewusst und gewollt geschäftsmäßige Basis, auf der die „4. Gewalt“ ihren unbestechlichen Maßstab guten Regierens gegenüber der Politik geltend macht. Dieser Maßstab ist es dann auch, der die beiden Seiten erst so richtig schön zusammenbringt: Ein guter Draht zu den Machern der Politik, fein gestaffelt nach deren Position in der Machthierarchie, sichert den professionellen Meinungsbildnern die entscheidenden Infos aus erster Hand, also alles Wesentliche, was ihr Blatt beim Leser interessant macht und für Auflage, Inserate und Medienförderung sorgt. Und umgekehrt haben Politiker ein nachhaltiges Interesse, am Maßstab der Öffentlichkeit zu glänzen, sind also an Kontakten in die Chefredaktion mehr als interessiert. Insbesondere natürlich ein Kurz, der seine Karriere erst noch machen musste. Wie normal beides ist, nämlich das Geschäft mit der Meinung wie auch der dabei waltende, für die Politik so schmeichelhafte Maßstab, davon zeugt nicht zuletzt der interessante Vorwurf: Das hätte Kurz doch gar nicht nötig gehabt!

Die schlagendere Kritik an Kurz liegt konsequenterweise auf einem anderen Feld: Fellner wurde aus dem falschen Topf – Ministeriums- statt Parteikasse – bezahlt! Das desavouiert die „Message Control“ als Machenschaft. Wenn Kurz sich schon die öffentliche Meinung kauft, dann soll aber bittschön auch er sie bezahlen und nicht „der Steuerzahler“. Sosehr im Rechtsstaat die Einhaltung der vorgeschriebenen Regeln noch jede Gemeinheit legitimiert, gilt eben auch umgekehrt, dass Kritiker dann etwas auf ihrer Seite haben, wenn sie einen Verstoß gegen die Rechtslage benennen können; egal, wie formell der sich zu der so betriebenen Sache verhält. Je gewichtiger das verletzte Rechtsgut, desto überzeugender die Kritik. Kein Wunder, dass die Volkspartei alles daran setzt, vor allem die juristische Frage zu entschärfen. Bloß beschuldigte Partei ist sie schließlich nicht. Sie ist Regierungspartei, entsprechend selbstbewusst tritt sie auf: Sie beteuert nicht nur die Unschuld ihres Wunderwuzzis, sondern polemisiert gleich auch noch gegen die ermittelnde Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft. Das kommt naturgemäß nicht bei allen gut an. Ihr wird mangelnder Respekt vor den Institutionen des Rechtsstaats vorgeworfen – ein Vorwurf, den sich die ÖVP gefallen lassen muss, weil ihr zum rechtsstaatlich sauberen Umgang mit der Judikative nicht nur die Mehrheiten fehlen: Denn zwar ist im Rechtsstaat die Anpassung der Rechtslage ans Interesse der Herrschaft immerhin selber rechtsförmlich geregelt, also ausdrücklich vorgesehen; und Ideen, was da zu ändern wäre, hat die ÖVP auch – von der Wahrheitspflicht im Untersuchungsausschuss über die Erlaubnis, gewisse Dokumente an Medien weiterzugeben, bis zur Frage der juristischen Verwertbarkeit von Chatprotokollen wäre einiges legistisch anzugehen. Aber ex-post ist es einfach zu spät dafür.

Eine abschließende Lehre erteilt das Staatsoberhaupt höchstpersönlich: Bundespräsident Van der Bellen leitet sein Volk zur demokratischen Bewältigung des Skandals an, wie es keine 4. Gewalt der Welt besser könnte: a) Er heizt die Empörung nach Kräften an und gibt ihr so die Richtung vor. Entstanden sei ein „Sittenbild, das der Demokratie nicht guttut“, weil ein „Ton der Respektlosigkeit“ und andere „Unverschämtheiten“ das Vertrauen in die Politik erschüttert hätten. Das Vertrauen des lieben Volkes in seine Herrschaft ist so als das eigentliche Opfer identifiziert, und das gilt es zu rehabilitieren. b) Der mahnende Zeigefinger an die Übeltäter aus dem Hause ÖVP und die stellvertretende präsidentielle Entschuldigung „in aller Form“ für das „verantwortungslose“ Bild, das die Politik abgegeben habe, benennt die Schuldigen und zieht eine Trennlinie zwischen ihnen und der eigentlich guten Sache der Herrschaft, für die Van der Bellen kraft seiner Entschuldigung steht. c) Der Schuldige tritt zur Seite, „die Regierungskrise ist beendet“. d) „Das Vertrauen muss nun unter der Leitung des bisherigen Außenministers und designierten Kanzlers Schallenberg erarbeitet werden.“ Womit? Ganz einfach: Damit, dass er regiert.

Dieser Artikel ist eine Vorabveröffentlichung aus der Zeitschrift GegenStandpunkt 4-21, die am 17.12.2021 erscheint.

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